Den menschen nochmals erschaffen

Katalog 2002 mostra Museum und galerie Im Prediger e-Kloster der Franziskanerinnen Schwabisch Gmund und Kulturzentrum Englische Kirhe-galeri Scheffel, Bad Homburg v.d.Hohe “MariaLuisa Tadei Soglia Ubergang Threshold” 2002 ISBN 3-9807297-4-5.

Während Kandinsky auf dem Wege zur Abstraktion die „Seelenvibration“ im Kunstwerk entdeckte, hatte Jahre zuvor der Naturforscher Ernst Haeckel, einer der Begründer der modernen Evolutionstheorie, jene „Seelentätigkeiten“ in den „Kunstformen der Natur“ erkannt, „die den realen Körperformen ebenso in der Natur wie in der nachbildenden Kunst zu Grunde liegen.“ Rein schöpferische und rein wissenschaftliche Methoden gehen hier in der Ausprägung des Kunstwerks als Kristall eine symbolhafte Synthese ein.

Unter diesen Vorzeichen können maßgebliche Tendenzen auch noch der zeitgenössischen Kunst beurteilt werden. Als Anhängerin dieser Position, Kunst und Natur in einer Art von träumerischem Lyrismus zusammenzufassen, kann auch MariaLuisa Tadei beurteilt werden. In ihrer Plastik gehen Technisches, Organisch-Biologisches und Traumatisch-Phantastisches beschwörend eigene Welten ein.

Kinetische Rhythmen ersetzen die statische Masse der Skulptur in Eisen oder Draht. Von Beginn an ist die Idee vorhanden, die Plastik aus ihrer Abhängigkeit von Masse und Volumen zu befreien. Die Durchdringung mit dem Raum soll wirken wie eine Arabeske, wie eine „Zeichnung im Raum“. Stein und Bronze waren hierfür nicht geeignet, während sich das Eisen bzw. der Draht als ideale Partner anboten. Die Entdeckung der offenen Konstruktion und ihres mobilen Effektes steht am Anfang des Werkes von MariaLuisa Tadei und findet ihren Ausdruck in filigranen Lineamenten in farbigem Draht wie „Rendezvous zweier Religionen“, „Junge mit Drachen“ oder „Mädchen mit Ball“. Alexander Calder ist der Kronzeuge all dieser humorvollen Figurationen aus farbigem Draht und pittoresken Accessoires. Bezeichnenderweise hatte Calder 1926 seine ersten grotesken Drahtfiguren als Kleinplastiken entworfen und dem Milieu des Zirkus’ und des Spieles gewidmet. Damit konnte er mühelos die spielerische Note mobiler Figuren hervorheben. Der Künstler erzählt Geschichten.

Auch MariaLuisa Tadei greift zu diesem Mittel, dass die Figur sich ihren eigenen Raum schaffen muss. Sobald nun aber in ihrem Werk die Figurationen verschwinden, die Objekte zeichenhaften Charakter annehmen und sich mehrteilig zu einer Installation zusammenschließen, bleibt dieses Prinzip gleichermaßen wirksam: Der bewegliche, fließende Raum ist kein statisch-ruhendes Gefüge, keine Sockelplastik mehr. Er lebt immer, wie in der „Großen Augenwimper“ von 1997, von mehr oder minder heftigen Verspannungen und Energieschüben hin zu verschiedenen Ebenen, nach vorn und nach hinten. Elastizität und Schwebezustand der Form sollen stets bewahrt bleiben. Dies stellt sich als elementare Formkonstante immer wieder ein. Schwingende und hängende Lineamente, jene „Zeichnungen im Raum“, die vor allem in biegsamen Materialien ausgeführt werden müssen, gleiten in bestimmenden Schwingungen und markieren die Ausdehnung. Sie rufen gleichsam das „Atmen“ im Raumkörper wach. Die große Geste der Linie wird darüber hinaus erweitert um die großflächige skulpturale „Besetzung“ ganzer Wand- und Bodenflächen. So bewahrt auch die aus zahlreichen vegetabilen Einzelelementen bestehende Bodenarbeit „Weißer Garten“ aus dem Jahre 2000, eine Variante des „Gartens der Gedanken“, noch exakt diese Nähe zum veränderbaren, wiederum schwebenden Zustand aus Rhythmus und Bewegung. Die Assoziation der Meereslandschaft mit dem Fluten des Wassers zwischen den Korallenbänken, dem Sand in der Tiefe und den Kolonien aus Pflanzen- und Muschelwerk mag sich hier einstellen. Dieses assoziationsreiche Wellen-Spiel der Arabeske aus Bewegungen der Linie beschrieb beispielhaft Henry van de Velde, einer der Wegbereiter des Jugendstils und des Art Deco, deren Naturbegriff und Formdenken MariaLuisa Tadei viele Anregungen verdanken dürfte:
„… stieg ich zum Strand hinab, um die linearen Arabesken aufzuzeichnen, die die zurückflutenden Wellen im Sand hinterließen. In den Dünen bei Knokke hatten mich früher schon ähnliche Bildungen fasziniert: vergängliche, eigenwillige, raffinierte Ornamente, die der Wind im Sand zeichnete. Auch als ich die Malerei aufgegeben hatte, verließ mich der Dämon Linie nicht, und als ich die ersten Ornamente schuf, entstanden sie aus dem dynamischen Spiel ihrer elementaren Kräfte.“

„Wir glauben, dass man zur Kunst durch die Kunst gelangt“, schrieb bereits 1934 Fausto Melotti, als er sich zum „künstlerischen Unterricht“ Gedanken machte. Das Wichtigste sei die persönliche Intuition und der Mut, „mit dem eigenen Kopf zu denken“.

Wenn man sich dennoch akademischer gestalterischer Formen wie den Gesetzen der Geometrie widme, sei es immer ein Versuch wert, „alle Gehirne in eine einzige Richtung zu bewegen. Die einzige Möglichkeit, Perfektion anzustreben. Griechenland. Idee der Hierarchie. Die abstrakte Kunst gibt uns heute die Möglichkeit der Akademie. Das Ergebnis ist analysierbar, genauso wie eine Fuge.“

Mit diesem „akademischen“ Antrieb meint Melotti keineswegs die routinehafte Ausübung eines trockenen Handwerks, sondern im Gegenteil die Systematisierung ästhetischer Gesetze und Harmonien nach dem Kanon der Musik (der Fuge).

Mit dieser Vorgabe treffen wir überraschenderweise auf eine grundlegende künstlerische Position, mit der MariaLuisa Tadeis Arbeiten zu charakterisieren sind. Während der Klassiker Fausto Melotti, ein Bildhauer und Poet ersten Ranges, nach dem Prinzip der „Themen und Variationen“ 1960 „Das Magazin der Ideen“ in Messing und Bronze entwarf, präsentierte MariaLuisa Tadei 2001 den „Garten der Gedanken“, zahlreiche in Glas eingeschlossene pflanzlich-organische Gebilde, „Kristalle“ aus Bronze und Stahl, die sich wie kostbare Relikte einer unbekannten Kultur in den Regalen einer Schauwand, eines Studiolos, sammeln. Melotti präsentiert in seiner erzählerischen Arbeit, die den Schnitt durch ein Haus zeigt, ein kellerartiges „Magazin“, in dem sich die Kopfbüsten stapeln und auf ihre denkmalhafte Heroisierung in der lichten Oberwelt warten. Über dem Dach des nach vorne offenen Gebäudes steht der Mond, Zeichen des Kosmos. MariaLuisa Tadeis sorgfältig konservierte Elemente sind demgegenüber Fundstücke aus dem Vorrat der so reichen Natur, wie sie Haeckel beispielhaft ausgewählt haben könnte. Sie sammeln sich symbolhaft zum Schauplatz des blühenden „Gartens“. Es sind lichtvolle phantastische Körper eines floralen Mikrokosmos, dessen zauberhafte Atmosphäre in Form und Farbe wie zu Schmuckstücken verklärt erscheint.

Die Formen gleichen aber auch überdeutlich „Gehirnen“, in denen sich die Gedanken und Ideen sammeln. In dieser Bedeutung verweisen die transparenten Glaskuben mit ihrem kostbaren Inhalt auf jene Schreine, deren magisch-sakrale Aura die Meditation und den Glauben an die Ewigkeit einschließen. Louise Nevelson, die als Erste derartige aus Fundmaterial geschichtete „Schreine“ in die moderne Plastik eingeführt hat, sprach von der „fürstlichen Hoheit“ der „reinen“ Objekte. Hier seien die Wünsche und Geheimnisse der Vergangenheit eingeschlossen. Allein auf dieser sakralen bzw. spirituellen Ebene lassen sich ihre Schauwände und Kästen angemessen würdigen, und auf dieser Ebene der reinen Poesie und Verklärung müssen auch die Werke von MariaLuisa Tadei interpretiert werden.

Das Bekenntnis zur klaren Gestaltung, zum kristallinen Material und zum lyrischen Ausdruck prägt offensichtlich jedes Werk von MariaLuisa Tadei, sei es geometrische Form (Linie, Kreuz, Kreis) oder vielteilige energetische Raumplastik. Die Formenvielfalt, wie sie die „unendliche Naturgeschichte“ (Paul Klee) bildnerisch bereithält und wie sie im „Garten der Gedanken“ angelegt ist, verweist auf komplexe Funktionen, denen dennoch immer wieder der Leitgedanke der Schwerelosigkeit und der „Reinheit“ als Grundlage dient. Von Beginn an (seit den ersten figürlichen Drahtplastiken) liegt demzufolge der künstlerischen Form eine gezielte Spannung aus Mechanik, Antrieb und Entladung zugrunde, mit deren Hilfe nach dem Prinzip der elastischen Bewegung der Raum erobert wird. Die Antriebskräfte liegen innen, die Grenzen sind außen. Nach diesem Gesetz baut MariaLuisa Tadei jede Plastik auf. Sie besteht aus Kern und Innenraum, Schale und Außenraum. Gerade die hängenden oder vielteilig den Raum überflutenden Teilelemente demonstrieren eindringlich das dem Konzept der Moderne innewohnende Prinzip, jede Form „als Genesis, als Werden, als Wesen“ (Paul Klee) zu verstehen. Auf diese Weise nur gelingt es, sich der Erdenschwere und der eindeutigen Bindung zu entziehen.

Gerade die Konzeptkunst und die Arte Povera, denen sich MariaLuisa Tadei verbunden fühlt, rücken das anthropologische und naturhafte Umfeld in den Vordergrund der Gestaltung. Die naturbelassenen oder naturhaft konservierten „armen“ Rohstoffe sollen in ihrer gezielten Darbietung genetische Zusammenhänge ankündigen und die innewohnende Energie der Materie sammeln und ausstrahlen. Gleichermaßen soll die Form in ihrer mythischen und göttlichen Dimension (Serie der „Oculi dei“) verstanden werden, die den Staub und Schmutz der Erde restlos abgeschüttelt hat. Mit Hilfe von „Aufstieg“, „Intuition“ und „Gleichgewicht“, wie einige Werktitel lauten, sucht die Künstlerin die Überwindung der Statik und der eindimensionalen Zentralperspektive. Die elastischen Raum-Strukturen (in Stahl) zeigen besonders den Charakter dynamischer Raumkurven, die sich dem zähen Fluss der Form demonstrativ entziehen und sich, worauf wir bereits hinwiesen, arabeskenhaft verlebendigen. Die Gebärde elementarer Anspannung teilt sich unmittelbar dem Empfinden des Betrachters mit. Das statische Gefüge, wie es normalerweise einer Plastik in Eisen und Draht eigen ist, sucht stets die dynamische Tendenz. Die bewegenden Kräfte sind jenen Impulsen und Trieben vergleichbar, die im Wachstum eines Baumes, im Gefüge eines Ornamentes (Arabeske) oder in der federnden Konstruktion eines Gerüsts wirksam sind. Die Form der Plastik ist nicht mehr Abbild, sondern Geste. Sie wandelt sich zu einer gebärdehaften Gestalt, die sich nicht scheut, dekorative Wirkungen einzubeziehen. Häufig handelt es sich um transparente, gefäßhafte Körper, Behälter, Schreine und Schutzräume in Werken wie „Gleichgewicht“, „Garten der Gedanken“ oder „Intuition“, die in ihrer grazilen Intimität einen träumerischen Lyrismus wachrufen. Wie in den „Kristallen“ zum „Garten der Gedanken“ berühren sie an der Grenze zum Dekor magisch-zeremonielle und archaische Grundgedanken.

Herauszuheben sind die mit verschiedenen Titeln versehenen Serien der plastisch gewölbten „Augen Gottes“ („Oculi dei“) oder „Zwischen eins und sieben“, deren Intensität noch gesteigert wird, wenn sie mit der in lichtvoller Glastechnik ausgeführten Bodenplastik in Form eines Kreuzes kombiniert werden (Installation in Santa Maria delle Croci in Ravenna). Die drei Symbole aus Kreis, Kreuz und Auge vereinen sich in dieser Arbeit zum Bild eines Passionszeichens, des Kreuzes. Aus der Vogelperspektive gesehen bietet sich für diese Inszenierung im Kirchenraum die Vision einer kosmischen Erscheinung an, wie „gleichsam die Erde bei Sonnenuntergang vom Meer ganz leicht berührt wird“ (MariaLuisa Tadei). Bei unterschiedlicher Positionierung im Innen- wie im Außenraum, stehend oder schwebend, wird überdeutlich, dass diese „Gewölbe-Kreise“ sich als Sinnbild des alles beherrschenden Kosmos darbieten, Augen-Scheiben einer überirdischen Macht, Abbilder einer planetarischen, transparenten Weltvorstellung.

Naturhafte Zeichensprache (Augen, Adern, Licht), Poetisierung des Alltags und mythisches Denken verbinden sich mit der Vorstellung, die in Konsum und „Blindheit“ erstarrte Gesellschaft emotional anzusprechen und in den Kreislauf kosmischer Energien zurückzuführen. Der Zivilisation wird ihre Zerstückelung und geistige Armut vorgeführt, wenn sie ihre Identität und Geschichte aus den Augen (!) verliert.

Der träumerische Lyrismus, der alle Arbeiten MariaLuisa Tadeis auszeichnet, wird von dieser Suche nach „Reinheit“, Grazie und planetarischer Lichtfülle getragen. Dabei präsentieren sich die Werkelemente, wenn sie in raumhaltigen Installationen ausgebreitet werden können, wie das Bild einer „paysage intime“. Der Hauptmeister dieser Kunst war bekanntlich der französische Maler Camille Corot. Dessen Schaffensweise charakterisierte der Malerkollege Gustave Colin in dem folgenden Satz: „Was er malen wollte, war nicht so sehr die Natur, als die Liebe, die er für sie hatte.“

Der Autor Dr. Gottlieb Leinz ist stellvertretender Direktor der Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum in Duisburg.